Der nachstehende Text ist das 5. Kapitel des Buchs von Roland R. Ropers: Geburtsstunde des neuen Menschen. Hugo Makibi Enomiya-Lasalle zum 100. Geburtstag. Petersberg: Verlag Via Nova 1998, S. 133-154. Er ist dem vom selben Verfasser herausgegebenen Buch „Wohin geht der Mensch“ (vergriffen) entnommen.

Hugo Makibi Enomiya-Lasalle (1898-1990)


 
Zen-Praxis

 
„Alles ist euer Leben. Tag und Nacht, was immer euch begegnet, ist euer Leben; daher sollt ihr euer Leben der Situation anpassen, die euch im Augenblick begegnet. Verwendet eure Lebenskraft dazu, aus den Umständen, die auf euch zukommen, eine Einheit mit eurem Leben zu gestalten und die Dinge an ihren richtigen Platz zu setzen.“ 

Zen-Meister Dogen (1200-1253) 

Zen als Lebensweg

Das Wort „Zen“ kommt vom indischen dhyana und heißt ursprünglich „Meditation“. Die Chinesen schrieben es mit einem Schriftzeichen, das „ch'an“ ausgesprochen wird und bereits im Taoismus in Gebrauch war. Das Zeichen ist aus den Elementen „Gott“ und „ein“ oder „einfach“ zusammengesetzt, bedeutet also „eins mit Gott“. Im Laufe der Zeit bekam das Wort „Zen“ einen weiteren Sinn und schließt heute alles mit ein, was mit der Art der Meditation irgendwie zusammenhängt. Dazu gehört z.B. die bekannte Teezeremonie, ebenso die Kunst des Bogenschießens (Kyudo, d.h. Weg des Bogens). Das gleiche gilt vom Fechten, Judo, Karate, Pinselschreiben und Blumenstecken (Ikebana). All das sind nicht nur Sportarten oder Künste, sondern Wege, Lebenswege. Sie atmen sozusagen den Geist des Zen, das heißt, sie enthalten die geistige Lebenseinstellung, die dem Zen eigen ist. Sie sind im weiteren Sinne religiös und betreffen nicht nur einen Teil des Menschen, sondern den Menschen als Ganzes, seine ganze Person. Diesen Eindruck hat man auch heute noch bei den echten Meistern dieser Künste. Sie gleichen den eigentlichen Zenmeistern. Auch das Verhältnis von Meister und Schüler ist dasselbe. Alle diese Zen-Wege sind heute mehr oder weniger im Westen bekannt und werden dort von vielen Menschen geübt. Alle haben ihre eigenen Regeln, spezielle Bedeutung und Wirkungen. Auf alle einzugehen würde zu weit führen. Der gründlichste und wirksamste dieser Wege ist und bleibt das Zazen oder die Zen-Meditation.

Zazen

Zazen heißt „Sitz-Meditation“, was schon andeutet, daß das Sitzen dabei ein wichtige Rolle spielt. Wir wollen uns zunächst klarmachen, worin die Zen-Meditation besteht, wie sie vollzogen wird und was dazugehört. Zum Vollzug der Zen-Meditation gehören drei Dinge: Körperhaltung, Atmung und innere Haltung.

1. Körperhaltung

Man sitzt auf einem etwa fünf Zentimeter dicken Kissen, das unmittelbar auf dem Boden oder einer Decke liegt. Dabei wird der rechte Fuß auf den linken Oberschenkel und der linke Fuß auf den rechten Oberschenkel gelegt. Der Oberkörper soll einschließlich des Kopfes kerzengerade aufgerichtet, aber vollkommen entspannt sein. Die Arme hängen gelöst herunter. Die Hände liegen mit dem Handrücken nach unten gekehrt flach aufeinander, wobei sich die Daumen leicht berühren. Die Augen sind halb geöffnet und auf einen etwa einen Meter entfernten Punkt am Boden gerichtet. Dieser Sitz wird „Lotussitz“ genannt. Legt man nur den einen Fuß auf den gegenüberliegenden Oberschenkel, während der andere Fuß am Boden liegenbleibt, nennt man diese Haltung „halber Lotussitz“. Der Lotussitz ist fast unverändert vom Yoga übernommen. Bei diesem wird jedoch kein Kissen als Unterlage benutzt. Man sitzt flach am Boden, was übrigens auch im Zen bisweilen geschieht. Das im Zen gebräuchliche Kissen erleichtert den Lotussitz.

2. Atmung

Die Atmung geschieht grundsätzlich durch die Nase und sollte Tiefatmung oder Zwerchfellatmung sein. Brustatmung ist für den Zen weniger günstig. Das Atmen soll tief und ruhig sein. Zwischen Ein- und Ausatmen soll keine längere Pause gemacht werden. Der Atem wird nicht angehalten. Die beschriebene Haltung und Atmung fördert den Blutkreislauf und beruhigt die Nerven. Nachdem der Körper zur Ruhe gekommen ist, ist es leichter, auch seelisch in einen Zustand der Ruhe zu kommen, wie es für die Meditation notwendig ist.

3. Innere Haltung

Sie ist das wichtigste und der unmittelbare Zweck der Körperhaltung und Atmung. Sie ist schwieriger zu beschreiben als die beiden anderen Elemente des Zazen. Meister Dogen (1200 bis 1253), der Gründer der japanischen Soto-Schule (Sekte), sagte: „Denke das Nicht-Denken.“ Es ist ein Nichtdenken, das nicht gleichbedeutend ist mit einem Zustand des Dösens. Eine andere gebräuchliche Ausdrucksweise ist: „Ohne Begriffe und ohne Gedanken“ (munen-muso). Zazen ist eine Meditation ohne Gegenstand oder Thema. Im christlichen Raum sind wir gewohnt, uns auf eine Glaubenswahrheit oder eine Schriftstelle zu konzentrieren, wenn wir eine Betrachtung oder Meditation machen. Im Zen ist dies anders. Dort wird nicht über etwas nachgedacht, auch nicht über die buddhistische Lehre. Der chinesische Altmeister Rinzai sagt: „Räume jedes Hindernis aus dem Wege ... Wenn dir der Buddha auf dem Wege begegnet, so töte den Buddha! Wenn du deine Ahnen triffst, töte die Ahnen! Wenn du Vater und Mutter triffst, tote Vater und Mutter! Wenn du Buddhas Jünger triffst, töte Buddhas Jünger! Wenn du deine Verwandten triffst, töte die Verwandten! Nur so wirst du die Erlösung erlangen, nur so den Netzen entfliehen und frei werden.“ Dies heißt: Wenn dir während des Zazen der Gedanke an Buddha kommt, so weise diesen Gedanken ab, etc. Daß der Zustand des Nichtdenkens nicht ein Verhalten ist, in dem keinerlei geistige Tätigkeit stattfindet, konnte neuerdings durch die Beobachtung der Gehirnwellen und Hautreflexe während der Zeit der Meditation bestätigt werden. Bei Menschen, die im Zen fortgeschritten sind, z. B. den Zenmönchen, treten bald Alphawellen, später Thetawellen auf.

Anders ausgedrückt: Während der inneren Haltung des Zazen kommt es darauf an, daß jede ich-gelenkte Tätigkeit eingestellt wird. Das Ich muß passiv werden bzw. rezeptiv oder geöffnet. Es geht hier nicht um das Reden, sondern um die Haltung des Hörens, freilich nicht in dem Sinne, daß man etwas hören möchte; das wäre wieder eine ich-gelenkte Tätigkeit in der Form eines Wunsches. Tauchen trotzdem spontan Gedanken auf, schadet das dem Zen nicht, solange man nicht darauf eingeht. Mit anderen Worten: Man muß in die tiefere Bewußtseinsschicht eindringen. Das kann man jedoch nicht erzwingen, sondern muß es geschehen lassen. 

Verwirklichung der inneren Haltung

Beim Zazen gibt es drei verschiedene Verhaltensweisen: 
1. Man konzentriert sich auf den Atem. 
2. Man beschäftigt sich mit einem sogenannten Koan. 
3. Man sitzt einfach da, ohne irgendwelche Hilfsmittel zu gebrauchen.

1. Konzentration auf den Atem

Sie kann in verschiedener Weise geschehen. Gewöhnlich beginnt man damit, den Atem zu zählen, und zwar von eins bis zehn, dann wieder von eins anfangend. Man zählt dabei das Einatmen auf die ungeraden Zahlen und das Ausatmen auf die geraden. Das Atmen selbst geschieht ruhig und tief, jedoch ohne sich dabei Gewalt anzutun. Eine andere Art, sich auf den Atem zu konzentrieren, besteht darin, dem Atem im Geiste zu folgen, ohne zu zählen. Die Konzentration auf den Atem hilft, das Auftauchen von Gedanken einzuschränken. Sie hindert das Eindringen in tiefere Schichten des Bewußtseins nicht, weil sie eine sehr einfache Tätigkeit ist. Manchmal zählt man nur das Einatmen oder nur das Ausatmen. Das erstere hilft, die Zerstreuungen zu vermindern, das letztere, die Schläfrigkeit zu überwinden.
Die Methode, sich auf den Atem zu konzentrieren, ist nicht vom Zen erfunden worden. Sie geht auf die vorbuddhistische Zeit zurück. Buddha hat sie übernommen. Ursprünglich war sie nicht nur technische Hilfe, sondern hatte einen tieferen Sinn. Atem ist Leben. Der Mensch kann langes Fasten aushalten, ohne zu sterben. Wenn er jedoch nur wenige Minuten ohne Atem ist, stirbt er. Der primitive Mensch hatte das Gefühl, daß der Atem dem Geistigen nahesteht. Für beides brauchte er dasselbe Wort. Darum heißt es wohl im biblischen Schöpfungsbericht, daß Gott dem Menschen den Odem des Lebens ins Angesicht hauchte, nachdem er den Leib aus Erde geformt hatte (Gen. 2,7). Die Seele, das heißt das, was den Menschen zum Menschen macht, ist gewissermaßen ein Anteil am Geiste Gottes. Über den tieferen Sinn des Atems soll beim Zazen nicht nachgedacht werden. Aber das Wissen um diese Zusammenhänge kann das Zählen des Atems sympathischer machen. Jedenfalls ist es anzuraten, im Anfang beim Zazen das Atemzählen zu benutzen. Früher oder später sollte man dazu übergehen, dem Atem im Geiste zu folgen, ohne zu zählen. Dabei denkt man beim Einatmen nur an das Einatmen und beim Ausatmen nur an das Ausatmen.

2. Konzentration auf ein Koan

Koan ist ein chinesisches Wort und heißt nach dem Sinn der dafür verwandten Schriftzeichen „öffentliche Bekanntmachung“. In Wirklichkeit hat es jedoch einen anderen Sinn. Im Zen gibt es eintausendsiebenhundert Koan. Zum großen Teil sind es Gespräche zwischen Meister und Schüler, „mondo“ (Frage und Antwort) genannt. Der eigentliche Text des Koan ist meist kurz und enthält einen Widerspruch oder ein Paradox, auf das der Verstand keine Antwort weiß. Freilich wird dazu eine Erklärung gegeben. Auch diese ist jedoch nicht ohne weiteres verständlich, wenn man nicht schon tieferen Einblick in das Zen gewonnen hat.

Dazu einige Beispiele:
Meister Chaochou wurde einst von einem Mönch gefragt, ob auch in einem Hündlein die Buddhanatur sei. Chaochou antwortete: „Mu“ (Nichts). Oder: Ein Mönch bat Chaochou: „Meister, ich bin noch ein Neuling, zeige mir den Weg.“ Chaochou sprach: „Hast du schon dein Frühstück beendet?“ Der Mönch sagte: „Ich habe mein Frühstück beendet.“  Chaochou antwortete: „Geh und wasch die Eßschalen!“  Da kam der Mönch zur Einsicht.
Der japanische Meister Hakuin klatschte in die Hände, dann erhob er die eine Hand und sagte: „Höre den Ton der einen Hand!“ 

Viele sind mit Hilfe des Koan zur Erleuchtung gekommen. Den Prozeß vom Koan zur Erleuchtung kann man sich in folgender Weise vorstellen. Der Schüler sucht zunächst eine logische Lösung zu finden. Nach einiger Zeit wird es ihm klar, daß es auf diesem Wege keine Lösung gibt. Nun gibt er das logische Denken auf. Inzwischen hat er sich jedoch so in das Problem hineingearbeitet, daß er es nicht mehr los wird. Dazu kommt, daß er immer wieder, vom Meister gerufen und zu einer Antwort gedrängt wird. Er ist in einem Zustand wie einer, der eine glühende Kugel verschluckt hat und sie ausspeien möchte, es jedoch nicht kann. Das ist der Zustand des „großen Zweifels“, von dem im Zen oft die Rede ist. Wo der Übende geht und steht, verfolgt ihn das Koan. Beständig hat er es im Sinn. Tag und Nacht ist er mit dem Koan beschäftigt. Eines Tages oder Nachts hat er plötzlich das Gefühl, er sei selbst das Problem geworden. Er ist selbst das Nichts des Chaochou oder die eine Hand, von der Hakuin sprach. Das eigene Ich ist spurlos verschwunden. Übt er nun unermüdlich weiter, dann verschwindet das Koan plötzlich aus seinem Bewußtsein. Damit ist die vollkommene Leere des Bewußtseins hergestellt und die Voraussetzung für die Erleuchtung erfüllt. Es bedarf meist nur einer unbedeutenden sinnlichen Wahrnehmung, z.B. eines Schlags der Tempelglocke oder des kaum hörbaren Fallens eines Blattes von einem in der Nähe stehenden Baum, und der Geist öffnet sich. Das große Erlebnis ist da.

Trotz der guten Erfahrungen, die man mit dem Koan gemacht hat, ist es nur ein Mittel, nicht das Wesen des Zen. Seine Anwendung ist nach Zen-Schulen oder Sekten und nach einzelnen Meistern verschieden. Von den beiden großen Sekten Soto und Rinzai benutzt erstere das Koan grundsätzlich nicht, während Rinzai es ausführlich tut. Wer dort Zenmeister werden will, muß alle Koan lösen, was natürlich viele Jahre in Anspruch nimmt. Auf diese Weise wird die Erleuchtung immer mehr vertieft.

3. Das „Nur-Sitzen“ (shikantaza)

Man spricht vom „Nur-Sitzen“, weil man sitzt und atmet, wie es vorgeschrieben ist, aber keinerlei Hilfsmittel - weder Konzentration auf den Atem noch ein Koan - benutzt. Kommen Gedanken, geht man ihnen weder nach, noch vertreibt man sie. Ein Meister der neueren Zeit, Sogaku Harada, stellte das in folgender Weise dar:

„Es ist wie der am Ostmeer majestätisch emporragende Fuji-Berg. Doch ist dieser Vergleich noch zu schwach. Eigentlich sollte man sagen: Das Zazen ist ein Gefühl, so massiv, als wäre das Sitzkissen zum Erdball geworden und das Weltall füllte den Unterleib aus. Stattdessen zu dösen, hieße Kuhmist kneten. Es wäre ein gänzlich totes Zen und überhaupt kein Zazen mehr. Wenn man es lieber anders ausdrücken will, kann man auch sagen: ,Unbeweglich stehen die grünen Berge. - Die weißen Wolken kommen und gehen.‘ - Oder mit den Worten Tesshu Yamaokas: ,Ob der Himmel klar ist oder bewölkt, in jedem Fall ist es recht. Der Berg ist immer derselbe, und seine ursprüngliche Gestalt ändert sich nicht.' Das ist der Zen-Gesang, der Gesang der Wahrheit, wirklich unser Gesang. Im Zen-Merkbuch (Zazengi) ist das ausgedrückt durch das Wort ,Hishiryo' (Nicht-Denken). Um es ausführlich zu sagen: ‚Denke das Nicht-Denken', das ist der Schlüssel zum Zazen, das ist sein Lebensnerv.“

(Daiun Sogaku Harada, 1870-1961 war in den 50er Jahren mein Zen-Meister; er vereinigte auf geniale Weise die beiden Schulungen des Zen von Rinzai und Soto zu einer neuen Form. Er ließ mich in seinem Kloster die Eucharistie feiern und hatte einen tiefen Respekt vor der Dimension der christlichen Mystik. Die Nachfolger von Harada Roshi waren die bekannten Zen-Meister Hakuun Ryoko Yasutani und Yamada Koun.)

Bei allen drei Verhaltensweisen gibt es kein Thema, über das nachgedacht wird, wie das bei der christlichen Betrachtung gewöhnlich geschieht. Das ist am Anfang schwierig. Entweder treten viele Gedanken auf, oder man wird schläfrig. Kommen dann noch wegen des ungewohnten Sitzens erhebliche Schmerzen in den Beinen dazu, braucht man viel Geduld, die vorgeschriebene Zeit durchzuhalten. Bei Anfängern sind die Schmerzen oft so stark, daß ihnen das Denken schon dadurch unmöglich wird. Aber das ist noch nicht das Nicht-Denken, das hier gemeint ist. Das bemerkt man erst, sobald die Schmerzen einigermaßen erträglich werden oder ganz aufhören. Denn nun drängen sich die Gedanken in Schwärmen auf.

4. Der Warnungsstab

Dieser soll den Zen-Schülern eine Hilfe bieten in ihrem Bemühen. Es ist ein zwei bis drei Fuß langer Stab, aus Holz gemacht, der am äußeren Ende flach ist. Damit wird von einem Mönch von Zeit zu Zeit auf die Schultern der Zen-Schüler geschlagen. Normalerweise geschieht das aber nur während des Zazen. Dieser Warnungsstab gehört seit Jahrhunderten zum eisernen Bestand der japanischen Zenhallen. Es wird bald mehr oder weniger, fester oder sanfter geschlagen. Ein Europäer, der das zum ersten Male mitmacht, ist vielleicht ungehalten darüber und meint, solche Methoden paßten nicht in die heutige Zeit. Aber er bemerkt bald, daß ein Schlag mit dem Stab eine lockernde Wirkung bei Verspannung hat. Der versteifte Körper wird aufgefrischt und der Schlaf vertrieben. Daß das Schlagen keine Züchtigung ist, sondern ein Dienst am Mitmenschen, kommt schon durch das dabei beobachtete Zeremoniell zum Ausdruck. Der Mönch holt den Stab vom Buddha-Altar (auf dem er gewöhnlich liegt), nachdem er sich tief verneigt hat. Bevor er einen der Übenden schlägt, verneigt er sich tief vor ihm, während jener die Hände zusammenlegt wie beim Gebet. Dann erst schlägt er ihn ein- oder mehrmals auf die Schultern. Dann geschehen dieselben rituellen Handlungen wie zuvor, und der Mönch geht weiter zum nächsten, wo dasselbe Zeremoniell wiederholt wird. Ehe die Sitzung endet, wird der Stab wieder feierlich an seinen Ort auf dem Buddha-Altar gelegt.

5. Der Zenmeister

Hier kommen wir zu einem wichtigen Punkt: der persönlichen Leitung durch den Zenmeister. Denn nach Auffassung des Zen kann Zen, besonders die Erleuchtung, nicht durch theoretische Unterweisungen, sondern nur durch Initiation weitergegeben werden. Zen ist mehr als eine Technik oder Methode. Es ist etwas Geistiges darin, was übertragen oder weitergegeben werden soll, nämlich eine Erfahrung von höchster Bedeutung. Daher gilt die Leitung durch den Zenmeister von jeher als Wesensbestandteil des Zen. Eine Technik kann man zur Not auch durch eine ausführliche schriftliche Anweisung erlernen. Aber das ist nur der Anfang. Die Führung des Meisters ist weder Magie noch Hypnose. Auch hier kommt der tiefe Sinn der Sache durch ein Zeremoniell zum Ausdruck, das bei der Einzelleitung beobachtet wird. Der Zenmeister ist dann nicht irgendein Lehrer, sondern Buddha selbst. Der Schüler nähert sich ihm mit dreimaliger oder sogar neunmaliger Verbeugung bis zum Boden auf beiden Knien und rutscht nach der letzten Verneigung bis auf zwanzig Zentimeter an den Meister heran. Während dieser Begegnung, die in einem eigens für diesen Zweck bestimmten Zimmer stattfindet, wird über nichts anderes gesprochen als über das Zazen, und zwar praktisch, nicht theoretisch. Der Schüler berichtet von seiner Erfahrung oder von seinen Schwierigkeiten beim Zazen. Der Meister stellt ihm Fragen. Im allgemeinen ist das Gespräch kurz. Oft dauert es nur eine Minute oder noch weniger. Das genügt für den Meister, um zu sehen, wo der Schüler steht. Der Meister hat ein kleine Schelle neben sich stehen, die er läutet zum Zeichen, daß das Gespräch zu Ende ist. Sofort zieht sich der Schüler in der gleichen Weise zurück, in der er gekommen ist. Er geht in die Zenhalle zurück, wo er die Meditation fortsetzt. Während der strengen Übungen, die meistens eine Woche dauern, geht der Schüler mehrmals am Tage zum Meister.
Trotz der starken Betonung der Einzelleitung hält es die Soto-Schule anders als die Rinzai-Schule. Soto drängt weder auf Erleuchtung, noch benutzt sie das Koan. Sie betont die Einzelleitung längst nicht so stark wie Rinzai. Um das zu verstehen, muß man bei Soto die Interpretation des Zen in ihrer Gesamtheit sehen. Der Sotomönch tritt mit dem Mönchwerden in das Buddhaleben ein. Das aber erschöpft sich nicht im Zazen, sondern umfaßt das ganze tägliche Leben, Tag und Nacht. Dieses Buddhaleben ist für ihn schon die Erleuchtung. Diese Erklärung ist vielleicht zu einfach, um die einschlägigen Fragen vollkommen zu beantworten. Aber es gibt verschiedene Auffassungen im Zen. Oft wird es sich nach der Veranlagung des einzelnen richten, welche er vorzieht. Praktisch entscheidet sich die Wahl automatisch. Die Schulen sind ja gleichzeitig religiöse Gemeinschaften (Sekten). Je nachdem einer der einen oder anderen angehört, wird er die Wahl treffen, wenn er Mönch wird. Wenn oben gesagt wurde, daß Soto nicht auf die Erleuchtung dränge, so heißt das nicht, daß es dort keine Erleuchtungserlebnisse gibt. Es gibt sie auch dort. Findet die Erleuchtung statt, ist das Privatsache und wird nicht als äußere Norm gewertet, z.B. als Qualifikation für einen Zenmeister wie im Rinzai.

Wie gesagt, geschieht die Einzelleitung im Zen während der Meditationszeiten, damit der Meister den inneren Zustand des Schülers kennenlernt. Weil der Schüler während dieser Zeit tiefer in Versenkung ist, kann der Meister ihn leichter leiten als in der Zeit zwischen den Meditationen. Zu anderer Zeit könnte der Schüler nur berichten, was war. Dann ist keine unmittelbare Prüfung mehr möglich.

Die Wahl des Zenmeisters steht jedem frei. Hat man die Wahl getroffen und ist vom Meister als Schüler angenommen, so gilt als Regel, daß man den Meister nicht wechselt. Bedeutende Meister lassen Bittende oft lange warten, lehnen sie manchmal mit harten Worten ab, um zu sehen, ob es dem Schüler wirklich ernst ist mit seinem Entschluß. Sollte man aus schwerwiegenden Gründen den Meister trotzdem wechseln, dann tritt eine andere Regel in Kraft: Man muß alles vergessen, was man vom vorhergehenden Meister gesagt bekommen hat. Das heißt, man muß sich nun vorbehaltlos vom neuen Meister leiten lassen. 

Ziel, Zweck und Wirkung

Man könnte zwei Fragen stellen: 

  1. Was ist der eigentliche Zweck dieser Meditation?
  2. Was bedeutet sie für den Menschen als solchen, d. h. unabhängig davon, ob er Buddhist oder Christ, Asiate oder Europäer ist?

1. Ziel: Bewußtwerden des Selbst und der Transzendenz

Das Ziel des Zazen ist von seinem buddhistischen Ursprung her eindeutig bestimmt, nämlich: das Bewußtwerden der Buddhanatur. Nach buddhistischer Lehre hat jeder Mensch die Buddhanatur. Es ist daher nicht so, daß er etwas werden soll, was er nicht war, sondern daß er sich dessen bewußt werden soll, was er schon immer war. Mit der Buddhanatur ist im Grunde nicht etwas gemeint, das nur den Buddhisten angeht. Der Mensch hat ein doppeltes Leben oder Sein. Das eine ist jenes Leben oder Sein, dessen er sich bewußt wird in dem Augenblick, in dem er zum Bewußtsein kommt. Das ist jedoch nicht alles. Er hat auch teil an dem einen ungeteilten und absoluten Sein, von dem unabhängig nichts existiert. Nach buddhistischer Lehre genügt es nicht, das nur zu sein, sondern man muß sich dessen auch bewußt werden; daher die Bezeichnung „Selbstverwirklichung“. Das eigentliche, tiefste Selbst muß bewußt werden. In dem Augenblick, in dem das geschieht, erfährt der Mensch: Das, was er bisher für sein Ich gehalten hat, ist nicht im vollen Sinne er selbst. In der Erleuchtung wird er sich dieses anderen „überweltlichen Seins“ bewußt.
Damit hat allerdings die Zen-Meditation ihren Zweck noch nicht erfüllt und muß daher, auch nach Erlangen der Erleuchtung (satori), fortgesetzt werden. Die Erleuchtung ist nur ein Aufleuchten oder ein kleines Licht im Innersten der Seele, das stärker und stärker werden muß, bis es alles überflutet und alle Gedanken, Worte und Werke unmittelbar von ihm ausgehen. Dann geschieht, was Paulus sagt: „Ich lebe, aber nicht ich, sondern Christus lebt in mir“ (Gal. 2,20). Dieses Wort ist auch den Zenmeistern bekannt, und sie führen es bisweilen an, um ver-ständlich zu machen, was das letzte Ziel des Zazen ist.

Um die zweite Frage zu beantworten - was die Zen-Meditation für den Menschen als solchen bedeutet -, dürfen wir uns nicht auf das Endziel, die Erleuchtung, beschränken. Schon auf dem Wege dorthin geschieht vieles, das nicht nur für einen Buddhisten, sondern für jeden von hohem Wert ist, gerade für den Menschen der Gegenwart. Über diese Wirkungen der Zen-Meditation möchten wir nun einiges sagen.

2. Wirkungen

Die Wirkungen, die schon vor Erlangen der Erleuchtung auftreten und nach der Erleuchtung beständig verstärkt werden, lassen sich in zwei Gruppen zusammenfassen:

a) Geistige Kräfte: Sie wachsen dem Übenden durch die Übung des Zazen zu (joriki). 
b) Einsicht (chie) oder intuitive Erkenntniskraft.

a) Geistige Kräfte

Die erstgenannten Kräfte können physisch-somatisch oder geistiger Art sein. Sie gehören nach heutigem Sprachgebrauch der Parapsychologie an. Wir müssen uns auf die geistigen Kräfte beschränken, die durch das Zazen geweckt oder freigelegt werden. Auch das Zen strebt heute nur die geistigen Kräfte an. Was versteht man darunter? Es handelt sich um die Fähigkeit, die Zerstreuungen des Geistes abzustellen und seelisches Gleichgewicht und Ruhe zu erlangen.

Was bedeutet dies konkret? Zunächst wird der Mensch Herr über seine Gefühle. Er wird ruhiger und innerlich freier. Seine Gefühle gehen nicht mit ihm durch. Er wird zugänglicher für seine Mitmenschen. Kommt er trotzdem einmal aus dem Gleichgewicht, dann gewinnt er es schnell zurück. Dies bedeutet nicht passive Gleichgültigkeit oder Verlust an Energie oder Emotionalität. Es gab und gibt auch heute Menschen aus allen Berufen, selbst Staatsmänner und Großindustrielle, die Zazen praktizieren. Die Fähigkeit, die Zerstreuungen des Geistes zu überwinden, fördert zugleich die Konzentration. Wer regelmäßig Zazen übt, wird auch in seinem Beruf tüchtiger. Er wird fähig, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, auch wenn äußere und innere Hindernisse im Wege stehen. Das Gleichgewicht zwischen Emotionalität und Ruhe läßt sich vielleicht durch eine Erklärung von Prof. Schultz, dem Erfinder des autogenen Trainings, verstehen. Er sagt, man müsse dafür sorgen, daß die Reize, denen wir beständig ausgesetzt sind, sich nicht im Vegetativen festsetzen. Sie werden dann ganz natürlich aufgenommen und empfunden, klingen aber schnell wieder ab. Gehen sie jedoch in den Körper, setzen sie sich dort fest wie mit einem Widerhaken. Der „Film“ läuft immer wieder von neuem ab. „Ärger, Heftigkeit, Angst, kurz die störenden Gemütsbewegungen sind nur deswegen so mächtig, weil sie den ganzen Organismus erschüttern.“ Dies erklärt auch, daß emotionelle Menschen, wie es die Japaner von Haus aus sind, in schwierigen Situationen die Ruhe bewahren. Selbstverständlich bringen es nicht alle so weit. In letzter Zeit hat sich da manches geändert. Aber bei solchen, die Zazen üben, ist es selbstverständlich.

Eine andere Weise, die hier besprochene Wirkung des Zen zu erklären, ist folgende: Im Zen spricht man oft von der Tätigkeit an der Vorderseite und an der Rückseite des Geistes (oder des Herzens). Das ist in etwa dieselbe Unterscheidung wie zwischen bewußter und unbewußter Tätigkeit. Die Tätigkeit an der Vorderseite kennen wir und haben sie einigermaßen in der Hand. Anders ist es mit der Rückseite. Viele Menschen wissen gar nicht, was dort bei ihnen geschieht. Sie meinen vielleicht, daß sie in ihren Entscheidungen frei und objektiv sind, werden aber weit mehr von ihrem Unbewußten geleitet, als sie ahnen. Durch das Zazen lernt man auch die Rückseite des eigenen Geistes kennen. Es ist wie bei einer Selbst-Psychoanalyse. „Man versteht den wahren Zustand seines Geistes“, sagte einmal jemand von der Erleuchtung.

Dies alles wirkt sich auch auf das Religiöse aus. Die erhöhte Konzentrationsfähigkeit erleichtert die Aufmerksamkeit bei Gebet und liturgischen Handlungen. Selbstbeherrschung und innere Freiheit geben dem Menschen größere Möglichkeiten, andern behilflich zu sein. Dazu kommt die ethische Vervollkommnung: Das Negative und Abwegige wird allmählich aufgelöst, weg-meditiert. Neid, Haß und Mißgunst ... verschwinden oder werden gegenstandslos. Der Mensch wird frei und echter Liebe fähig.

b) Einsicht

Sie ist die zweite Wirkung des Zazen. Was damit gemeint ist, können wir uns auf zweierlei Weise klarmachen. Die erste geht von der Voraussetzung aus, daß die menschliche Erkenntnisfähigkeit sich auf zweifache Weise betätigen kann: diskursiv und intuitiv. Dazwischen liegen zahllose Kombinationen. Die diskursive Weise geht von einer Wahrheit zur anderen. Die intuitive dagegen erkennt die Wahrheit unmittelbar. Die erstere ist ihrer Eigenart nach auf die Einzeldinge oder das Seiende gerichtet. Letztere ist besonders auf das eine ungeteilte, absolute Sein, auf Gott, gerichtet. Dementsprechend gibt es auch zwei verschiedene Arten von Meditation: die diskursive, Betrachtung genannt, und die intuitive, die im eigentlichen Sinne Meditation ist.

Zwischen beiden besteht jedoch eine enge Beziehung. Das diskursive Denken wird durch das intuitive vervollkommnet. Bezeichnend sagt Thomas Merton: „Die ‚Unwissenheit' des wahren Mystikers bedeutet nicht Unvernunft. Zuweilen scheint die Beschauung das spekulative Denken zu verwerfen, in Wirklichkeit aber ist sie dessen Erfüllung. Jede Philosophie und Theologie, die sich über die Bedeutung der wahren Ordnung der Dinge klar ist, strebt danach, in die Wolke auf dem Gipfel des Berges einzutreten, in welcher der Mensch hoffen kann, dem lebendigen Gott zu begegnen. Jede Wissenschaft müßte daher erfüllt sein von dem Bewußtsein ihrer Grenzen und vom Verlangen nach einer lebendigen Erfahrung der Wirklichkeit, welche dem spekulativen Denken unerreichbar ist.“
Was wir heute in den Naturwissenschaften erleben, bestätigt diese Auffassung. Ihre größten Vertreter kommen von der Vielheit zur Einheit und damit zum letzten Sein, das diskursiv nicht mehr faßbar ist. Ähnliches wird angedeutet durch das „neue Denken“, von dem wir seit langem hören. Soll das überhaupt einen Sinn haben, muß es uns ein vollkommeneres Erfassen der Wahrheit bringen, als wir es bisher in unserem „dreidimensionalen“ Wissen erreichen können. Wenden wir dies auf die christliche Betrachtung oder Meditation an, so heißt das: Die Betrachtung, im Sinne der gegenständlichen, auf das einzelne gehenden Betrachtung kann uns die religiösen Wahrheiten nur unvollkommen mitteilen. Das gilt besonders von der Erkenntnis des Absoluten und, im christlichen Sinne, des persönlichen Gottes. Denn dieses bzw. dieser entzieht sich jeder Begrenzung und jedem Begriff.

Viele Menschen haben heute ihren Gottesglauben verloren (Gott-ist-tot-Theologie), weil sie keinen anderen Weg als den hergebrachten diskursiven fanden, tiefer in das Geheimnis Gottes einzudringen. Gottesbeweise helfen dem heutigen Menschen weitgehend nicht mehr. In den Dingen, die nicht Gott sind, findet er ihn auch nicht durch schlußfolgerndes Denken. Er findet nichts mehr, das wirklich zu Gott paßt. Ein anthropomorpher Gottesbegriff ist für viele Menschen trotz besten Willens nicht mehr vollziehbar. Die Betrachtung darf daher nicht bei den Einzeldingen stehenbleiben, sondern muß zur Meditation werden, in der das diskursive Denken aufhört. Solange wir Gott begrifflich erfassen, erfassen wir ihn nicht selbst, sondern ein Bild von ihm. Von neuem gilt heute das Verbot: Du sollst dir kein (geschnitztes) Bild machen, um es anzubeten. Das ist nicht mehr Gott, sondern ein Götze. Hier ist ein wichtiges Moment für die Begegnung mit dem Buddhismus, besonders mit Formen des Buddhismus, wie das Zen ihn vertritt. Die Zenmönche wollen keine Atheisten sein. Sie sind es auch nicht in dem Sinne, wie ein Christ es wäre, der später die Existenz Gottes ausdrücklich leugnete. Die Zenmönche glauben an etwas, haben es vielleicht sogar erfahren, und dieses „Es“ kann wirklich Gott sein. Einsicht oder intuitive Erkenntnisfähigkeit, die durch Zenübungen gefördert wird, ist jene Fähigkeit, die in der Erleuchtung sowie in der Gotteserfahrung christlicher Mystik allgemein wirksam ist.

Hier möchten wir noch eine andere Erklärung der Einsicht geben, die mehr östlich ist als die obengenannte, die sich an die christlich-scholastische Auffassung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit anlehnt. Der Osten kennt auch heute noch ein „Organ“ für die intuitive Erkenntnis. Er nennt es „Grund“ - „Seelengrund“ würden die christlichen Mystiker sagen - oder das „dritte Auge“. Wir sind gewohnt, geistige Gefühle durch Verstand und Willen zu erklären. Man erkennt z.B. etwas als gut und liebenswert. Der Wille setzt daraufhin einen Akt der Liebe, dessen Gegenstand eine Sache oder Person sein kann. Nach östlichem Denken muß diese Liebe im „Grund“ empfangene und geboren werden. Dieser „Grund“ ist wie eine „geistige Erde“, aus der alle geistigen Gefühle hervorgehen. Auch die religiösen Gefühle, vor allem der Glaube, kommen auf diesem Wege zustande. Der Befehl des Willens genügt selbst bei bester Erkenntnis nicht. Im westlichen Kulturkreis ist die „geistige Erde“ durch das Übergewicht des materialistischen und rationalen Elementes überwuchert oder unfruchtbar geworden. Das ist heute unsere große geistige Not. Die Zen-Meditation spricht diesen „Grund“ an und macht ihn wieder fruchtbar. Sie tut das dadurch, daß sie das diskursive Denken beiseite läßt. Daraus erklärt sich die häufige Beobachtung, daß Menschen, die nicht mehr an Gott glauben können, durch Zen-Meditation zu ihrem eigenen Erstaunen wieder zu ihrem Gottesglauben zurückfinden, obgleich bei dieser Meditation nicht von Gott gesprochen wird. Ähnliche Erfahrungen wurden mit anderen östlichen Meditationsweisen gemacht. Andererseits machen gläubige Christen, die nach der Art des Zen meditieren, die Erfahrung, daß sie unerwartet tiefere Einblicke in christliche Wahrheiten oder Schriftsteller gewinnen, obwohl sie nicht darüber nachgedacht haben.

3. Grundlage: Läuterung

Betrachten wir die genannten Wirkungen des Zazen, fragen wir uns vielleicht: Wie ist das möglich? - Es ist möglich, weil Zazen ein Versenkungsweg ist und daher ein Läuterungsweg wie alle echten Versenkungswege. Denken wir nur an die „Nächte“ des hl. Johannes vom Kreuz. Er spricht von der „Nacht der Sinne“ und der „Nacht des Geistes“. Über erstere, in der die sinnlichen Begierden gereinigt werden (was immer der „Nacht des Geistes“ vorangehen muß), hören wir im Zen nicht viel. Es wird einfach vorausgesetzt, daß jeder, der den Weg zur Erleuchtung gehen will, die Einstellung mitbringt, das Buddhagesetz zu beobachten und ein sittenreines Leben zu führen. In den buddhistischen Schriften gibt es jedoch viele Stellen, in denen auf das gedrängt wird, was in der „Nacht der Sinne“ geschehen soll. Auch ist das Leben in Zenklöstern sehr streng. Zum Beispiel gibt es siebentägige Zenübungen, während derer weder bei Tag noch bei Nacht eine Minute geschlafen werden darf. Dazu kommt, daß jene, die in ein Zenkloster eintreten wollen, große Prüfungen bestehen müssen.

Der „Nacht des Geistes“ bei Johannes vom Kreuz entspricht im Zen die Ausschaltung des Gedächtnisses, Verstandes und Willens, mit einem Wort gesagt: des Ich. Vielleicht gibt es in keiner Religion einen so radikalen Weg der geistigen Losschälung wie den des Zen. Wer diesen Weg geht unter Leitung eines strengen Meisters, wird das rasch bemerken. Man darf sich an nichts hängen, nirgends stehenbleiben, weder bei guten noch bei schlechten Gedanken und Gefühlen. Die geringste Ausnahme führt zum Stillstand. Es gibt keinen Umweg, nur einen richtigen Weg. Wer das Ziel auf einem Umweg zu erreichen versucht, wird nach einiger Zeit feststellen, daß er wieder da angelangt ist, wo er den Umweg angetreten hat. Andererseits wird man auch feststellen, daß man am schnellsten vorankommt, wenn man diesen Weg so geht, wie er vorgesehen ist. Man muß oft mühsam Phasen durchstehen, ähnlich wie bei einer Psychoanalyse. Auch im Zen kennt man Schuldbewußtsein und Tränen der Buße. Dieser Weg gleicht einem Labyrinth. Wer ihn einmal ernsthaft angetreten hat, kann nicht mehr zurück, d.h. er kann nicht so sein, wie er vorher war. Der Übende hat Dinge erlebt, die er nicht mehr vergißt. Durch ein Zurück würde er niemals glücklich werden, sondern das Gefühl haben, falsch gehandelt zu haben. Nichts hilft, immer tiefer muß er in das Dunkel hineingehen, bis das Licht aufleuchtet, das er ersehnt. Wann dieser glückliche Augenblick jedoch kommt, weiß er nicht, und niemand kann es ihm sagen. Er hat nicht einmal die Garantie, daß er jemals zum Licht kommt. Dies alles geschieht nicht nur beim Zazen, sondern bei allen echten Versenkungswegen. Eines weiß man aber genau: die Zeit ist nicht verloren, wenn man durchhält. Der Übende bemerkt, daß sich sein Leben wandelt und er im Dienst seiner Mitmenschen mehr tun kann, als wenn er diesen Weg niemals angetreten hätte.

Zanmai: Weg der Versenkung

Das Zazen kann erstaunliche und für jeden Menschen bereichernde Wirkungen hervorbringen. Diese Wirkungen setzen voraus, daß man über die Anfangsschwierigkeiten langsam hinweg ist und allmählich, später dauernd, in die Versenkung kommt. Im Zen nennt man diesen Zustand „Zanmai“, ein Wort, das aus dem Sanskrit kommt, nämlich von „samadhi“.
Wir wollen versuchen zu erklären, worin der Zanmai besteht. Durch Erklärungen allein kann man es zwar nicht ganz verstehen. Für ein volles Verständnis ist die eigene Erfahrung notwendig. Die folgenden Überlegungen werden uns zeigen, daß die Versenkung oder das Zanmai etwas ist, das allen Religionen gemeinsam ist. Nur die Wege dahin sind verschieden. Carl Albrecht, der sich phänomenologisch ausführlich mit der Versenkung beschäftigte, sagt, diese bestehe in dreierlei:

1. Herauslösung aus der Außenwelt, 
2. Entleerung des Bewußtseins, 
3. Vereinheitlichung des Bewußtseins.

Dieser Zustand war den Mystikern von jeher bekannt. Als Beispiel führen wir den Benediktinermönch Augustin Baker (1575-1641) an.
Baker hatte in jungen Jahren ein großes Erlebnis, vernachlässigte es aber lange Zeit. Später erfuhr er eine zweite Bekehrung und begann von neuem, nach Vollkommenheit zu streben. Er meditierte täglich viele Stunden. Der folgende Bericht spricht von der Art seiner Meditation.

1. Vereinheitlichung der Seelenkräfte

Baker spricht in der dritten Person und nennt sich „unser Schüler“. Er sagt: „Bei Tauler, Harphius und anderen Mystikern lesen wir, daß jeder, der ein geistlicher Mensch werden will, seine äußeren Sinne nach innen ziehen muß und diese inneren Sinne in die Fähigkeiten der höheren oder intellektuellen erheben und sie dort verlieren oder vernichten muß. Dann müssen diese Fähigkeiten der Seele sich in ihrer Einheit sammeln, die der Anfang oder die Quelle ist, aus der diese Fähigkeiten fließen und sich ergießen. In dieser Einheit ist der Mensch imstande, auf Gott ausgerichtet zu sein und sich mit ihm zu vereinigen. Nun frage ich mich, ob das, was unser Schüler euch gesagt hat, von seinen fortgesetzten Bestrebungen, die danach zielten, alle seine Tätigkeit in das Innere des Körper zu ziehen, nicht das gleiche ist, von dem die Mystiker reden.“

Der flämische Mystiker Jan von Ruysbroek nennt diesen Vorgang ein Zurückkehren der Seelenkräfte zu ihrem Ursprung. Teresa von Avila spricht von einem Gebundenwerden der Seelenkräfte. Die erwähnte Einheit wird von den Mystikern als Seelenspitze bezeichnet.

Im täglichen Leben betätigen sich die Seelenkräfte - Gedächtnis, Verstand und Wille - gewöhnlich einzeln, stehen aber miteinander in Zusammenhang. Zum Beispiel kommt ein Entschluß dadurch zustande, daß man sich an etwas erinnert, darüber nachdenkt und sich dann entscheidet. Bei der Vereinheitlichung des Bewußtseins ist das anders. Dort geschieht etwas im Seelengrund. Die Akte werden nicht gesetzt, sondern, wie oben gesagt, aus der „geistigen Erde“ geboren. Während des Zanmai im Zen verändert sich der Bewußtseinszustand in dem Sinne, daß der innere Mensch mehr und mehr von der äußeren Welt abrückt und seine Wahrnehmungen durch die Sinne sich nicht voll auswirken. Man sieht und hört wie sonst, aber man wird dadurch nicht abgelenkt. Auch die Schmerzempfindung ändert sich. Bisweilen hören Schmerzen in den Beinen, die eben noch unerträglich schienen, plötzlich auf. Schmerzen werden zum großen Teil durch Verspannung verursacht. Tritt man in tiefes Zanmai ein, findet eine völlige Entspannung statt, und die Ursache des Schmerzes wird aufgelöst. Auch das Zeitgefühl ändert sich und geht gewissermaßen verloren. Man bemerkt nicht, daß die Zeit vorübergeht, und ist überrascht, daß die Meditation beendet ist, obwohl man meint, sie habe gerade erst begonnen.

Trotz dieser auffälligen Veränderungen sagen die Zenmeister, man nehme das eigene Zanmai nicht wahr. Eigentlich ist das selbstverständlich, denn in diesem Zustand ist die Subjekt-Objekt-Spannung mehr oder weniger aufgehoben. Daher verliert man auch das Zanmai, wenn man über das, was man empfindet, nachzudenken beginnt. Noch überraschender scheint es, daß es auch außerhalb der Meditation ein Zanmai gibt, wie wir bereits angedeutet haben. Es tritt ein, wenn man sich z.B. ganz auf eine Beschäftigung konzentriert. Man spricht daher von einem Zanmai der Arbeit. Dieses Zanmai wird im Zen höher geschätzt als das während des Zazen. Schon mancher hat bei einer solchen Gelegenheit die Erleuchtung erlangt, obwohl sie ihm zur Zeit der großen Übungen (sesshin) trotz allen Eifers nicht zuteil wurde. Kann jemand nicht beständig in einem Zenkloster leben und täglich viel meditieren, dann sollte er täglich wenigstens etwas üben und von Zeit zu Zeit die großen Übungen machen. Darüber hinaus sollte er sich ganz konzentrieren auf das, was er gerade tut, beim Essen auf das Essen, bei der Arbeit auf die Arbeit usw. Das ist der Rat der Zenmeister. Bei allem soll man nicht nur körperlich, sondern auch geistig ganz gegenwärtig sein. Wer dies tut, kann vielleicht eines Tages die Erleuchtung erlangen. Er wird allerdings feststellen, daß dies nicht so leicht getan wie gesagt ist. Zum Beispiel darf man bei der Arbeit weder an Verdienst, noch an eigene Ehre denken und sich auf Zerstreuungen nicht einlassen. Umgekehrt fördert die Zen-Meditation die Konzentrationsfähigkeit. Arbeit kann so zur Meditation werden. Manche Menschen bringen es so weit, daß Arbeit zur Erholung wird. Was an Arbeitskraft verbraucht wird, wird durch Meditation wieder aufgeholt. Dazu kommt ein Gefühl der Zufriedenheit, wie man es während der Meditation erfahren kann, selbst wenn es sich um eine rein mechanische Arbeit handelt. Solche Menschen brauchen oft sehr wenig Schlaf.

Es ist also nicht so, daß man während der Arbeit beständig an die Meditation denkt und damit die Aufmerksamkeit spaltet. Meditation und Arbeit stimmen negativ darin überein, daß alles, was nicht dazugehört, ausgeschaltet wird. Positiv stimmen sie darin überein, daß man ganz auf die Sache konzentriert ist. Der Unterschied besteht darin, daß man im einen Fall auf ein Objekt, im anderen Fall ohne Objekt konzentriert ist. Die objektlose Konzentration (Meditation) besteht in einem „bedingungslosen Anhaften“ an dem Dunkel, in das man schaut“ (Carl Albrecht).

Um die zur Versenkung gehörige Entleerung des Bewußtseins zu vollziehen, müssen wir „alle übernommenen Theorien, psychologischen Konstruktionen, alle bloßen Denkungen, Beurteilungen beiseite lassen.“  Das ist problematisch in zweifacher Hinsicht. Zunächst regt sich in uns ein Widersprach bei dem Gedanken, wir müßten alles an geistigem Besitz, den wir uns mit vieler Mühe angeeignet haben, einfach wegwerfen. Ferner schrecken wir davor zurück, uns sozusagen in das Nichts zu stürzen. - Zum ersten ist zu sagen: Es heißt nicht: „für immer wegwerfen“, sondern: „beiseite lassen“. Manche Autoren behaupten, man dürfe z.B. nicht an irgendeiner Glaubenswahrheit festhalten, sonst könne man das hier gesteckte Ziel nicht erreichen. Mit anderen Worten: ein bestimmter religiöser Glaube, z.B. der christliche, bilden ein Hindernis. Das ist nicht richtig. Richtig ist, daß man sich während der Meditation nicht willentlich und begrifflich mit irgendeiner Einzelerkenntnis beschäftigen darf. Das bestätigt uns auch Johannes vom Kreuz. Es geht nicht darum, daß man seinen Glauben wegwirft. Das tun auch die Zenmönche nicht. Sie bleiben Buddhisten. Sie halten auch während der großen Übungen, in denen fast den ganzen Tag meditiert wird, religiöse Riten ein, die sinnlos wären, wenn nicht ein Glaube dahinter stünde.

2. Sturz in das Nichts?

Wir kommen zum zweiten Bedenken, dem Sturz in das Nichts. Zunächst muß zugegeben werden: Dieser Sprung ist wirklich ein Wagnis. Dieses Wagnis aber muß der Mensch irgendwann einmal auf sich nehmen, will er in das tiefe Zanmai, d.h. in den Zustand kommen, der für die mystische Vereinigung im christlichen Sinne erforderlich ist. In der christlichen Spiritualität sah man hier häufig ein Problem. Man warnte davor, die vollkommene Leere des Bewußtseins anzustreben, d.h. bei der Betrachtung bzw. Meditation nichts zu denken. Das sei nicht nur sinnlos, sondern auch gefährlich, weil schlechte Gedanken in diese Leere eindringen könnten. Heute werden dazu noch Bedenken von der Psychotherapie angemeldet. Auf dieses Problem ausführlich einzugehen würde zu weit führen. Das Zen geht hier anders vor. Trotz der angedeuteten Gefahren besteht Zen von Anfang an auf dem Nichtdenken. Die Hilfen, die beim Vollzug des Zazen gegeben werden, haben keinen anderen Zweck, als das Nichtdenken zu erleichtern. Die Zenmeister haben allerdings große Geschicklichkeit, ihre Schüler an allen Klippen unbeschadet herumzuführen. Das Problem, das die Psychotherapie hier anzeigt, wird im Zen offensichtlich auf einem anderen Wege gelöst.

Irgendeinmal muß der Durchbruch zum Grund erfolgen, damit man zur Erleuchtung kommt. Das gleiche gilt für die mystische Erfahrung. Die christlichen Mystiker früherer Zeiten haben dies mit Hilfe ihrer großen Kasteiungen erreicht. Zen tut es in seiner Weise. Manchen Menschen wird es anscheinend ohne eigenes Dazutun geschenkt. Wir dürfen annehmen, daß etwas anderes, das nicht aus eigener Kraft stammt und das wir Gnade nennen, mit im Spiel ist. Im Augenblick, in dem diese Erfahrung da ist, wird sie immer als Geschenk empfunden.

Satori: Erleuchtung

Da die Erleuchtung das eigentliche Ziel des Zen ist, möchten wir einige Erklärungen zum oben Gesagten hinzufügen, die uns ihre Bedeutung auch für den westlichen Menschen verständlich machen können.

Eine begriffliche Erklärung der Erleuchtung gibt es nicht. Sprechen wir trotzdem davon, dann ist zu sagen, daß sie keine Einzelerkenntnis ist. In diesem Sinne weiß man nachher nicht mehr als zuvor. Wohl aber weiß man das bereits Gewußte in einer neuen Dimension. Als ein Zenmeister gefragt wurde, ob man selbst merke, wann die Erleuchtung da sein, sagte er: „Selbstverständlich; man sieht hundertmal mehr als vorher.“ Ohne Zweifel wird in der Erleuchtung ein erfahrungsmäßiges Wissen erlangt, nicht ein theoretisches. Theoretisches Wissen um Erleuchtung und um das, was man in ihr erfährt, kann vorher schon da sein oder nicht. Als Kosen Imakita, ein japanischer Zenmönch aus der Meiji-Zeit, die Erleuchtung erlangte, rief er aus: „Eine Million Sutras sind nur wie eine Kerze vor der Sonne.“
Fragen wir nun: Was wird in der Erleuchtung erfahren? - Darauf kann man zwei Antworten geben:

1. Erfahrung des Selbst

In der Erleuchtung wird das Selbst, das tiefste Selbst, erfahren, im Gegensatz zum empirischen Ich. Letzteres kennen wir alle. Wir führen es beständig im Munde. Dieses Ich ist noch nicht der Personkern. Er ist überhaupt nichts, das in sich existiert. Louis Gardet sagt, daß das Subjekt bei dem Bemühen einer Selbstinspektion - die übrigens verschieden ist vom Zen - den Eindruck haben kann, „daß es gleichsam am Mittelpunkt seines Ich angelangt ist. In Wirklichkeit ereignet sich noch alles auf der Ebene einer gedanklichen Erfahrung der Akte, was darauf hinweist, daß ein primär Existierendes, das den Akten zugrunde liegt und aus dem sie hervorgehen, sich noch gar nicht preisgegeben hat.“

Das Bewußtsein des empirischen Ich ist beim Menschen nicht von Anfang an da. Es entsteht erst durch die Erfahrungen, die das Kind macht. Langsam wird sich das Kind bewußt, daß es von anderen Menschen verschieden ist. Das ist der erste Schritt zur Bildung der Persönlichkeit. Das, was hier zugrunde liegt, hat der Mensch noch nicht erfahren, wenigstens nicht unmittelbar. Er kann höchstens auf das Vorhandensein eines tieferen Selbst schließen. Erst in der Erleuchtung wird man sich dessen zum ersten Mal bewußt. Dies ist die Erfahrung der eigenen Existenz, die „unmittelbare Selbstwahrnehmung“. Von indischen Weisen hören wir seit Jahrtausenden die Mahnung, wir sollten uns fragen: „Wer bin ich?“ In neuerer Zeit war es der indische Weise vom heiligen Berg Arunachala, Ramana Maharsbi (1879-1950), der seinen Schülern immer wieder diesen Rat gab.
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2. Erfahrung des absoluten Seins

Die zweite mögliche Antwort auf die oben gestellte Frage ist: In der Erleuchtung wird das ungeteilte, absolute Sein erfahren. Dieses Sein kann apersonal oder personal erfahren werden. Man wird heute kaum mehr in Frage stellen, daß die Zen-Erleuchtung und andere ähnliche Erlebnisse in nichtchristlichen Religionen echte Erfahrungen des Absoluten sind, wenn auch nicht personal. Wären sie personal, so wären sie gleichbedeutend mit der Gotteserfahrung im christlichen Sinn. Die Formung dieser Erfahrung, vor allem aber der Versuch, sie in Begriffe zu fassen, ist nach der jeweiligen Weltanschauung verschieden. Eine echte mystische Erfahrung sträubt sich gegen jede Begrifflichkeit. Daher wird jeder, der eine Deutung versucht, die ihm zur Verfügung stehenden Kategorien zu Hilfe nehmen. Das führt leicht zu Mißverständnissen.

Der Buddhist erfährt in der Erleuchtung zwar das tiefste Selbst, aber als eins mit dem absoluten Sein. Er wird dadurch in seinem Glauben an die vollkommene Einheit allen Seins bestärkt. Der Christ (oder wer an einen persönlichen Gott glaubt) erfährt das Selbst nicht nur in sich, sondern auch in seiner Beziehung zum absoluten Sein. Er erfährt Gott in seinem Selbst. Die christliche Gotteserfahrung geht über das Selbst. Daher wird das Selbst nicht in das Absolute „eingeschmolzen“. Im Gegenteil: Die Gotteserfahrung ist für den Christen die Vollendung seiner Persönlichkeit. Meister Eckhart sagt: „Da ist Gott mein Grund und mein Grund Gottes Grund.“ Damit ist die für die christliche Mystik typische Liebesvereinigung mit Gott angesprochen. Beide, der Buddhist und der Christ, fühlen sich in ihrer Erfahrung von Furcht und Zweifel befreit und erfüllt von tiefem Frieden und höchster Freude. Die Beziehung zum Absoluten ist in beiden Fällen wesentlich vorhanden. Es kommt uns hier nicht darauf an, näher festzustellen, wie die Beziehung zum Absoluten im einzelnen bezeichnet wird, sondern darauf, daß diese Beziehung mit unserem geschöpflichen Dasein gegeben ist. Es nimmt daher nicht wunder, daß man das Phänomen der Erleuchtung in ähnlicher Weise zu allen Zeiten und in allen Religionen gefunden hat und auch noch findet.

Die Erleuchtung, sei es im buddhistischen oder im christlichen Sinn, ist zweifellos eine Erfahrung von hohem Wert - richtig verstanden die wertvollste, die dem Menschen möglich ist. Es wäre aber ein Irrtum, daraus den Schluß zu ziehen, daß damit alles geschehen sei, was zu geschehen habe, man brauche jetzt nichts mehr zu tun. Was fehlt dann noch?
Zunächst ist zu sagen, es gibt Unterschiede zwischen den einzelnen Erfahrungen. Man unterscheidet zwischen kleiner und großer Erleuchtung. Den Unterschied kann man sich so vorstellen: Man sitzt in einem Raum hinter einer vollkommen undurchsichtigen Glaswand und bohrt mit viel Mühe ein ganz dünnes Loch, vielleicht so dünn wie eine Stecknadel, aber doch so, daß es bis auf die andere Seite der Wand geht. Dementsprechend dringt ein ganz dünner Lichtstrahl in den Raum. Doch man sitzt noch fast im Dunkeln. Das wäre die kleine Erleuchtung. Eine Kleinigkeit genügt, und das kleine Loch ist wieder verstopft. So weit sollte man es nicht kommen lassen. Vielmehr sollte man weiter üben, damit mehr und mehr Licht ins Zimmer kommt. Es kann dann ein neues Erleuchtungserlebnis stattfinden; dadurch bricht auf einmal ein größeres Stück aus der Wand heraus. Je häufiger das geschieht, desto mehr wird es hell um uns. Bricht nun eines Tages nicht nur ein Stück aus der Wand heraus, sondern verschwindet die ganze Wand, dann wäre dies die große Erleuchtung.

Es ist eine Tatsache: In den meisten Fällen wird beim ersten Mal nur eine kleine Erleuchtung erfahren. Übt man viel, besteht die Aussicht, daß sich das Erlebnis wiederholt. Die große Erleuchtung erlangen nur wenige Menschen. Die Meister drängen daher darauf, nach der Erleuchtung immer weiter zu üben. Es wäre geradezu ein Verhängnis, wenn jemand, anstatt die Übungen fortzusetzen, sich etwas auf seine Erleuchtung einbilden und andere, die kein solches Erlebnis gehabt haben, geringschätzen würde. Da wäre es besser, er hätte dieses Geschenk niemals erhalten. Aus diesen Zusammenhängen geht hervor: Man darf nicht annehmen, mit der Erlangung einer kleinen Erleuchtung sei man schon ein vollkommener Mensch. Wohl hat man jetzt neue Möglichkeiten, rascher auf dem Wege zur Vollkommenheit voranzukommen.

Wir brauchen nicht einmal zu betonen, daß die Dinge im christlichen Bereich ähnlich liegen. Auch im Christentum gilt: mit dem Empfang einer mystischen Gnade ist man noch längst kein Heiliger. Ost und West stimmen auch darin überein: Die letzte und vollkommene Auswirkung der Erleuchtung bzw. der mystischen Gnade besteht darin, daß der Mensch in allem vom Absoluten gelenkt wird. Er steht dann jenseits von Gut und Böse in dem Sinn, daß er keines Gebotes mehr bedarf, keiner Regel, nach der er sich ausrichten müßte. Konfuzius sagte von sich, daß er mit siebzig Jahren nur dem Zuge seines Herzens zu folgen brauchte und keiner Regel mehr bedurfte. Ähnliche Stellen finden wir im christlichen Raum, z.B. bei Johannes Tauler. Von erleuchteten Menschen sagt er, „die Tugend würde ihnen so leicht und lichtvoll, als sei sie ihr Wesen und ihre Natur geworden“. Und was die Wirksamkeit des Menschen betrifft, „weiß er augenblicklich, was er tun soll“.

Noch ein anderer Hinweis soll im Anschluß an die Erleuchtung gegeben werden. Liest oder hört man von Erleuchtungserlebnissen großer Meister, ist man voller Bewunderung und fühlt vielleicht ein Verlangen, auch ein solches Erlebnis zu haben. Im gleichen Augenblick rückt jedoch diese Aussicht in weite Ferne, da man nicht zu hoffen wagt, daß dies jemals Wirklichkeit wird. Dazu möchten wir sagen: Es ist nicht so aussichtslos, wie es scheint, eine kleine Erleuchtung zu erlangen. Es müssen nur die Bedingungen dafür geschaffen werden, vor allem voller Einsatz und richtige Führung. Es ist gar nicht selten, daß Europäer durch Zenübungen Erleuchtungen erlangen. Was uns noch hoffnungsvoller machen sollte, ist die immer deutlicher sich abzeichnende Entwicklung des Menschen in Richtung einer neuen Dimension. Die Erleuchtung liegt in dieser Richtung. Das gilt auch von den Erfahrungen christlicher Mystiker. Mit Recht kann man sagen: Was früher Sache weniger begnadeter Menschen zu sein schien, gilt heute für viele. Der Mensch der Zukunft sollte Mystiker sein. Nur so kann er die Chance nützen, die ihm gegeben ist.