Das
ökumenische Kirchenasyl
in Tübingen |
Von links nach rechts: Fatma, Ahmet, Sultan, Hatice und Mustafa Güler
Endlich
Wurzeln für Familie Güler in neuer Heimat
Ich stelle mir vor, wie es vor 20 Jahren
war.
Da wird man im schattigen Hof sitzen unter den Feigenbäumen; die Tiere sind im Pferch, die Arbeit in den beiden Weinbergen, in den Olivenhainen, vor allem auf den gepachteten Baumwollfeldern ruht. Man wird auf der türkischen Gitarre zum Tanz aufspielen und alevitische Lieder singen. Es war das letzte große Familienfest nach der Geburt von Achmed. Denn der Horizont hatte sich verdüstert. Schrecken und Grausamkeit kamen ins Dorf. Mit einem mal war kurdische Zugehörigkeit ein Schandmal. Erst ging es gegen die kurdische Befreiungsbewegung PKK. Dann immer mehr gegen jeden Kurden, jede Kurdin. Militär zog ins Dorf, schikanierte diesen, beschuldigte jenen. War nicht ein Verwandter bei der PKK? Also mußte jetzt die ganze Familie dafür büßen. Man wollte den angesehenen Vater Mustafa zur Kollaboration zwingen; er sollte gleichsam seinem Kurdischsein abschwören. Die Mutter Hatice wurde verhaftet; Böses stand ihr bevor. Gewalt und Misshandlung erlebte sie im Gefängnis 1985 eine Woche lang. ihr Bruder saß bereits im Gefängnis. Es war furchtbar, und es ist immer noch furchtbar – ein in die Seele eingebranntes Trauma bis heute. Jegliche Zukunft war zerstört. Vater Mustafa durfte nicht mehr auf den Feldern arbeiten. Die Weinberge wurden abgeholzt. Wo nur konnte man leben und einfach überleben? Man zog in die Stadt Marash. Aber selbst da mußte Mustafa untertauchen. Blieb also nur die Flucht. Aber wohin und wie? Die Kinder zunächst zurücklassen und selber erst einmal Asyl suchen? Schweren Herzens ... ja doch. Im Herbst 1987 wagen die Eltern den Schritt in die Schweiz. Der erste Anlauf misslingt. Vielleicht ist es in Deutschland besser. Im Mai 1990 kommen die Eltern nach Deutschland; wenig später die beiden Söhne; Ali ist jetzt 14, Achmed 9 Jahre alt. Ein knappes Jahr danach kommen die Töchter; Fatma ist 17, Sultan 16 Jahre alt. Sie atmen auf, denn im letzten Jahr haben sie Schikanen, Verhaftungen und Folterungen durchlitten. Vor der Gewalt in jener Zeit stob der ganze
große Familienclan auseinander, als ob man mit einer Patsche ins
Feuer geschlagen hätte. Die meisten gingen nach Deutschland, manche
nach Frankreich, in die Schweiz, nach Österreich, nach England, nach
Kanada, nach Australien. Nur zwei ganz Alte von der Familie blieben in
der Türkei zurück.
Man stand vor Gericht. Alles war einem fremd. Man fühlte sich eingeschüchtert. Kaum brachte man die Worte heraus, die der Dolmetscher dann übersetzte. Man wollte noch dies und jenes sagen, aber der Richter winkte ab: Das genügt. Verschiedene Zeugen wurden gar nicht mehr gehört. Ali wurde anerkannt, die anderen nicht. Man verstand die Welt nicht mehr: man hatte das gleiche Geschick, das Gleiche durchlitten, durchschmerzt. Nur weil Ali schon besser Deutsch konnte, ein bisschen mehr sagen konnte, was einem im Hals stecken blieb? Aber man wollte nicht aufgeben, konnte
nicht aufgeben. In die Türkei zurück? Niemals! Die Familie hörte,
wie weiterhin Dorf um Dorf zugrunde ging; selbst in den Westen der Türkei
umgesiedelte Kurden wurden wie Parias behandelt.
Jeden Strohhalm ergriff man ... Folgeantrag, Petition was auch immer ... irgendeine Möglichkeit mußte es doch geben. Man war doch verfolgt ... man blieb doch verfolgt. Familie Güler engagierte sich auch selber politisch gegen Menschenrechtsverletzungen und Folter in der Türkel. Kam nicht Ahmet Karakus ins Gefängnis, als er in die Türkei abgeschoben wurde? Erging es nicht auch anderen so, dass sie bei ihrer Rückkehr denunziert, gefoltert und angeklagt wurden? Wir brauchen „Beweise“, sagten die deutschen Behörden. Genügt es denn nicht, dass für die ganze Familie ein gemeinsamer Sachverhalt vorliegt? Und warum wird nicht das Gutachten von Refugio anerkannt, das der Mutter Hatice schwere Traumatisierung bescheinigt? Oder ist es etwa aus der Luft gegriffen, wenn eine ganze Landessynode zum Abschiebestop drängt? Vielleicht ist es am merkwürdigsten,
wie man mit der sog. Altfallregelung umgeht.
Denn in der Tat: es ist unzumutbar, nach so langer Zeit ins Elend abgeschoben zu werden ... nach dieser ganzen Odyssee. Bei der Familie Güler ist es inzwischen ein Jahrzehnt; bei den Eltern selbst sind es sogar 13 Jahre. Im Dorf Wehingen, wo man vor dem Kirchenasyl gelebt hat, kam man gut mit den Nachbarn aus. Achmed spielte in der Fußballmannschaft; man arbeitete mit, wo man gebraucht wurde; ja, im Grunde war die Familie integriert. Fatma, Sultan und Achmed haben die Schule besucht. Man könnte heiraten; man will arbeiten; man will endlich leben ... ohne Wartebank, ohne Asyl, ohne Angst. Aber es kommt noch schlimmer ... wie nie gedacht. Trotz der Altfallregelung wird behauptet: man hätte keine Arbeit nachgewiesen. Man hätte dieses und jenes vom „Kleingedruckten“ nicht erfüllt. Aber man bekam ja keine Arbeitserlaubnis. Es war, als ob die Logik auf den Kopf gestellt würde – man war ein „Fall“ für die Altfallregelung, und war es doch nicht. Wo blieb das menschliche Gesicht, das eigene Geschick? Im Juni 2000 wurde die Abschiebung verfügt. Was blieb denn jetzt der Familie anderes als die Illegalität ... täglich die panische Angst, die Familie könnte aufgegriffen und abgeschoben werden?! Mutter Hatice rast das Herz. Blutdruck 200. Schlaflose Nächte. Die ganzen Traumatisierungen kommen hoch. Der Familie ist ganz elend zumute. Bleibt nur noch der Schutz ins Kirchenasyl. Helft! Der katholische Dekan in Wehingen wendet sich an seinen Tübinger Kollegen: Ich kann das auf dem Land nicht organisieren. Sieben evangelische und katholische Kirchengemeinden bieten daraufhin ein ökumenisches Kirchenasyl an. Die Aktion „Kein Mensch ist illegal“ hilft mit, Die Familie wird im Pfarrhaus der Martinsgemeinde untergebracht. Die Kirchengemeinden unterstützen die Familie, bestreiten den täglichen Lebensunterhalt; Ärzte verbürgen kostenlose Behandlung. Täglich wächst die Solidarität. Zum erstenmal seit Wochen atmet die Familie Güler wieder auf Vielleicht gelingt es doch zu bleiben ... Wurzeln zu schlagen in neuer Heimat. 12. September 2000 Pfarrer Dr. Helmut Zwanger Spendenkonto: Zahlungsempfänger: Evang. Eberhardsgemeinde
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